Montag, 9. April 2012

Natascha Kampusch: 3096 Tage

283 S., List, 19,95 €, ISBN 978-3-471-35040-9

Den Fall der Natascha Kampusch kennt wohl jeder. 3096 Tage Gefangenschaft - ganze 8 1/2 Jahre in der Gewalt eines psychisch kranken Menschens, der sich nach ihrer Flucht noch am selben Tag das Leben nahm.

Natascha ist 10 Jahre alt, als sie auf dem Schulweg morgens in einen weißen Lieferwagen gezerrt wird. Sie ist 18, als sie sich aus eigener Kraft befreit. Was in dieser Zeit alles mit ihr geschieht, ihre Ängste, die Gewalt, die sich vielfältig zeigt. Das Leben des "Täters" - wie Natascha ihn nennt - wird durch dieses Buch greifbarer, vorstellbarer. Auch den Motiven, die im Nachhinein keiner wirklich klären kann, versucht Natascha in dem von ihr selbst geschriebenen Bericht auf den Grund zu gehen.

Für Natascha Kampusch gibt es kein schwarz und weiß, kein auschließliches Opfer, keinen ausschließlichen Täter. Sie wehrt sich verbissen gegen den Stempel des Stockholm-Syndroms, welchen man ihr schnell aufdrückt, als sie Verständnis für den Täter zeigt. Für sie ist Wolfgang Priklopil der (einzige) Mensch, mit dem sie in diesen 8 Jahren Kontakt hat, der einzige Mensch, der sie versorgt - nicht nur mit Nahrung und Kleidung, auch mit Zuwendung.

Natürlich hat die Gewalt, die Priklopil ihr antut, die Oberhand. Er läßt sie hungern, sie ist seine Sklavin. Er läßt sie putzen, kochen, sogar schwere Bauarbeiten auf diversen Baustellen verrichten. Macht sie etwas in seinen Augen nicht richtig, schlägt er sie, misshandelt sie aufs Schärfste, sperrt sie tagelang ohne Essen ins Verlies, welches sie nach 2 Jahren das erstemal verläßt, um oben im Haus zu "helfen". Er nimmt ihr jegliche Identität, gibt ihr einen anderen Namen, behauptet, ihre Eltern wollen sie nicht zurück, weil sie das Lösegeld, welches er angeblich fordert, nicht zahlen. Er macht sie gefügig mit subtilen psychischen Methoden, er hält sie klein und untergräbt ihr Selbstbewußtsein, wo immer es nötig wird.

Der Täter ist unbeherrscht und unberechenbar. Seine Wutausbrüche sind für Natascha nicht vorhersehbar. Auch wenn sie alles ihrer Meinung nach richtig macht, rastet Priklopil immer öfter aus.

Aber er ist auch die einzige Bezugsperson für Natascha. Um nicht unterzugehen, um durchzuhalten, um an ein Leben nach der Entführung zu glauben und um nicht an der Gefangenschaft und der Gewalt zu zerbrechen, versucht Natascha Kampusch eine Normalität zu leben, zu vergeben und den Täter auch als Mensch zu sehen. Dieser Umstand traf großteils in der Öffentlichkeit auf Unverständnis. Das ist krank war der allgemeine Konsens und es gab eine Diagnose dafür: Stockholm-Syndrom. Für Natascha ist dies ein erneuter Übergriff. In ihren Augen wird ihr die Hoheitsgewalt über ihre eigene Geschichte, ihr Erlebtes und ihre Wahrnehmung genommen.
"Dass im Bösen zumindest in kurzen Augenblicken Normalität, ja sogar gegenseitiges Verständnis möglich ist. Das ist es, was ich meine, wenn ich davon spreche, dass es weder in der Realität noch in Extremsituationen entweder Schwarz oder Weiß gibt, sondern winzige Abstufungen den Unterschied machen. ... Indem ich ihn als Mensch sah, mit einer sehr dunklen und einer etwas helleren Seite, konnte ich selbst Mensch bleiben. Weil er mich so nicht brechen konnte."
Über die sexuelle Komponente der Entführung schweigt Natascha Kampusch:
"Eine der ersten Schlagzeilen über den Täter nach meiner Selbstbefreiung lautete: "Die Sexbestie". Ich werde über diesen Teil meiner Gefangenschaft nicht schreiben - es ist der letzte Rest an Privatsphäre, den ich mir noch bewahren möchte, nachdem mein Leben in Gefangeschaft in unzähligen Berichten, Verhören, Fotos zerpflückt wurde. Doch so viel will ich sagen: In ihrer Sensationsgier lagen die Boulevardjournalisten weit daneben." 
Auch der immer wieder hochkochenden Theorie der Mittäter widerspricht die Autorin. Es gab keinerlei Anzeichen dafür, auch wenn der Täter anfangs selbst diesen Aspekt ins Spiel brachte. Ein solches Verbrechen bedarf keiner Mitwisser - nicht über einen solch langen Zeitraum.

Dieser Tatsachenbericht wirkt streckenweise sehr abgeklärt. Fast unemotional beschreibt Kampusch ihr Märtyrium und ihren Weg, mit der Situation über einen so unglaublich langen Zeitraum klar zu kommen. Anfangs wirkt das sehr befremdlich, später ist klar: Natascha kann dies alles nur schildern, weil sie viele Dinge ertragen hat, indem sie sich einen Panzer geschaffen hat, eine zweite Persönlichkeit. Sie stand außen vor und hat beobachtet, wie Gewalt ihrem anderen Ich angetan wurden. Ihre Psyche hat zugesehen und sich stark gemacht.

Beeindruckend ist das ganze Buch. Wie wenig gebrochen wirkte diese junge Frau bereits zwei Wochen nach ihrer Flucht bei ihrem ersten Fernsehinterview. Und welch kluge Sätze sie in dieses Buch packt.

"Diese Gesellschaft braucht Täter wie Wolfgang Priklopil, um dem Bösen, das in ihr wohnt, ein Gesicht zu geben und es von sich selbst abzuspalten. Sie benötigt die Bilder von Kellerverliesen, um nicht auf die vielen Wohnungen und Vorgärten sehen zu müssen, in denen die Gewalt ihr spießiges, bürgerliches Antlitz zeigt. Sie benutzt die Opfer spektakulärer Fälle wie mich, um sich der Verantwortung für die vielen namenlosen Opfer der alltäglichen Verbrechen zu entledigen, denen man nicht hilft - selbst wenn sie um Hilfe bitten."
Lesen und sich selbst ein Urteil bilden!




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