Dienstag, 24. April 2012

Rolf Hochhuth: Der Stellvertreter

274 S., Rowohlt, 1963

"Der Stellvertreter" ist ein Klassiker der Aufbereitung der SS-Diktatur und nimmt sich einem besonderen Aspekt an: dem Verhältnis des Papstes als oberster Vertreter der Kirche und Adolf Hitler.

Warum schritt Pius der XII. nicht ein? Warum hat er sich nicht gegen die massenhafte Judenverfolgung ausgesprochen, auch als ihm schon lange klar war, dass der Abtransport in die KZs gleichzusetzen war mit der Vernichtung der Menschen?

In einem Schauspiel breitet Hochhuth die Bemühungen des abtrünnigen Nazis Gerstein und des Paters Riccardo Fontanas aus, die immer wieder versuchen, den Papst dazu zu bringen, ein öffentliches Statement gegen Hitlers Politik abzugeben. Doch sie stoßen auf eine Mauer der Ignoranz.

Dem Papst genügen die Bemühungen der Kirche, schutzsuchenden Juden Unterschlupf zu gewähren. Bei den Ausmaßen, die die Judenverfolgung schon längst angenommen hatte, war diese Haltung eine Farce. Vor allem, weil Hitler um den Einfluss des Papstes wußte und ein eindeutiges Bekenntnis gegen die Vernichtungspolitik erheblichen Druck auf Hitler ausgeübt und sein Ansehen in der Bevölkerung entsprechenden Schaden genommen hätte.

Hochhuth gelingt es, eines der dunkelsten Kapitel der katholischen Kirche, erschreckend nah zu holen. Er nimmt kein Blatt vor den Mund und prangert die Kirche an ohne auch nur einen Hauch des guten Willens an ihr zu lassen. Nur Pater Fontana macht hier eine Ausnahme, symbolisch für das Gewissen des Einzelnen angesichts der ungeheuerlichsten Verbrechen der Weltgeschichte.

Immer wieder aktuell!

Dienstag, 10. April 2012

Paulo Coelho: Aleph (Hörbuch)

 Spieldauer: 8 h 33 min, Sprecher: Sven Görtz, Diogenes, 2011

Hörprobe

Download Paulo Coelho - Aleph


Dies war mein erster Coelho. Und dieser Autor spaltet die Leserschaft: entweder liebt oder haßt man ihn. Ich zähle nun mehr wohl eher zu den Letzteren.

"Aleph" ist das neueste Werk von Coelho und wohl sein autobiografischstes. Laut eigener Aussage haben die geschilderten Erlebnisse genau so stattgefunden.

Der Ich-Erzähler begibt sich in einer Sinnkrise auf Autorenreise nach Asien und reist mit der Transsibirischen Eisenbahn. Er will die Reise nutzen, um wieder zu sich selbst zu finden. Das er hierbei allerlei seltsamen, aber auch freundlichen Menschen begegnet, liefert einen gewissen Stoff als Grundlage für das Buch.

Doch Coelho ergeht sich vor allem in seiner Begegnung zu einer jungen Musikerin, die er bereits zu kennen glaubt, obwohl sie um so vieles jünger ist als er. Und siehe da - er ist ihr wirklich schon einmal begegnet: in einem früheren Leben, auf einer Metaebene. Und er hat etwas wieder gut zu machen, denn bei ihrem ersten Zusammentreffen hat er Unrecht an ihr getan.

Für mich wirkte der ganze Plot doch sehr weit hergeholt und mystisch. Coelho findet eine doch sehr abstruse Begründung für die Anziehung, die er zu der jungen Frau Hilal empfindet und die sehr grenzwertig an einer Affaire vorbeischrammt.

Ich wurde überhaupt nicht warm mit dieser Geschichte und der Sprecher Sven Görtz liest das ganze auch noch so monoton, dass beim Hören meine Gedanken oft abschweiften. Wer auf philosphisch-esoterische Ergüsse steht, dem sei das Buch empfohlen. Für alle anderen: Finger weg!



Montag, 9. April 2012

Natascha Kampusch: 3096 Tage

283 S., List, 19,95 €, ISBN 978-3-471-35040-9

Den Fall der Natascha Kampusch kennt wohl jeder. 3096 Tage Gefangenschaft - ganze 8 1/2 Jahre in der Gewalt eines psychisch kranken Menschens, der sich nach ihrer Flucht noch am selben Tag das Leben nahm.

Natascha ist 10 Jahre alt, als sie auf dem Schulweg morgens in einen weißen Lieferwagen gezerrt wird. Sie ist 18, als sie sich aus eigener Kraft befreit. Was in dieser Zeit alles mit ihr geschieht, ihre Ängste, die Gewalt, die sich vielfältig zeigt. Das Leben des "Täters" - wie Natascha ihn nennt - wird durch dieses Buch greifbarer, vorstellbarer. Auch den Motiven, die im Nachhinein keiner wirklich klären kann, versucht Natascha in dem von ihr selbst geschriebenen Bericht auf den Grund zu gehen.

Für Natascha Kampusch gibt es kein schwarz und weiß, kein auschließliches Opfer, keinen ausschließlichen Täter. Sie wehrt sich verbissen gegen den Stempel des Stockholm-Syndroms, welchen man ihr schnell aufdrückt, als sie Verständnis für den Täter zeigt. Für sie ist Wolfgang Priklopil der (einzige) Mensch, mit dem sie in diesen 8 Jahren Kontakt hat, der einzige Mensch, der sie versorgt - nicht nur mit Nahrung und Kleidung, auch mit Zuwendung.

Natürlich hat die Gewalt, die Priklopil ihr antut, die Oberhand. Er läßt sie hungern, sie ist seine Sklavin. Er läßt sie putzen, kochen, sogar schwere Bauarbeiten auf diversen Baustellen verrichten. Macht sie etwas in seinen Augen nicht richtig, schlägt er sie, misshandelt sie aufs Schärfste, sperrt sie tagelang ohne Essen ins Verlies, welches sie nach 2 Jahren das erstemal verläßt, um oben im Haus zu "helfen". Er nimmt ihr jegliche Identität, gibt ihr einen anderen Namen, behauptet, ihre Eltern wollen sie nicht zurück, weil sie das Lösegeld, welches er angeblich fordert, nicht zahlen. Er macht sie gefügig mit subtilen psychischen Methoden, er hält sie klein und untergräbt ihr Selbstbewußtsein, wo immer es nötig wird.

Der Täter ist unbeherrscht und unberechenbar. Seine Wutausbrüche sind für Natascha nicht vorhersehbar. Auch wenn sie alles ihrer Meinung nach richtig macht, rastet Priklopil immer öfter aus.

Aber er ist auch die einzige Bezugsperson für Natascha. Um nicht unterzugehen, um durchzuhalten, um an ein Leben nach der Entführung zu glauben und um nicht an der Gefangenschaft und der Gewalt zu zerbrechen, versucht Natascha Kampusch eine Normalität zu leben, zu vergeben und den Täter auch als Mensch zu sehen. Dieser Umstand traf großteils in der Öffentlichkeit auf Unverständnis. Das ist krank war der allgemeine Konsens und es gab eine Diagnose dafür: Stockholm-Syndrom. Für Natascha ist dies ein erneuter Übergriff. In ihren Augen wird ihr die Hoheitsgewalt über ihre eigene Geschichte, ihr Erlebtes und ihre Wahrnehmung genommen.
"Dass im Bösen zumindest in kurzen Augenblicken Normalität, ja sogar gegenseitiges Verständnis möglich ist. Das ist es, was ich meine, wenn ich davon spreche, dass es weder in der Realität noch in Extremsituationen entweder Schwarz oder Weiß gibt, sondern winzige Abstufungen den Unterschied machen. ... Indem ich ihn als Mensch sah, mit einer sehr dunklen und einer etwas helleren Seite, konnte ich selbst Mensch bleiben. Weil er mich so nicht brechen konnte."
Über die sexuelle Komponente der Entführung schweigt Natascha Kampusch:
"Eine der ersten Schlagzeilen über den Täter nach meiner Selbstbefreiung lautete: "Die Sexbestie". Ich werde über diesen Teil meiner Gefangenschaft nicht schreiben - es ist der letzte Rest an Privatsphäre, den ich mir noch bewahren möchte, nachdem mein Leben in Gefangeschaft in unzähligen Berichten, Verhören, Fotos zerpflückt wurde. Doch so viel will ich sagen: In ihrer Sensationsgier lagen die Boulevardjournalisten weit daneben." 
Auch der immer wieder hochkochenden Theorie der Mittäter widerspricht die Autorin. Es gab keinerlei Anzeichen dafür, auch wenn der Täter anfangs selbst diesen Aspekt ins Spiel brachte. Ein solches Verbrechen bedarf keiner Mitwisser - nicht über einen solch langen Zeitraum.

Dieser Tatsachenbericht wirkt streckenweise sehr abgeklärt. Fast unemotional beschreibt Kampusch ihr Märtyrium und ihren Weg, mit der Situation über einen so unglaublich langen Zeitraum klar zu kommen. Anfangs wirkt das sehr befremdlich, später ist klar: Natascha kann dies alles nur schildern, weil sie viele Dinge ertragen hat, indem sie sich einen Panzer geschaffen hat, eine zweite Persönlichkeit. Sie stand außen vor und hat beobachtet, wie Gewalt ihrem anderen Ich angetan wurden. Ihre Psyche hat zugesehen und sich stark gemacht.

Beeindruckend ist das ganze Buch. Wie wenig gebrochen wirkte diese junge Frau bereits zwei Wochen nach ihrer Flucht bei ihrem ersten Fernsehinterview. Und welch kluge Sätze sie in dieses Buch packt.

"Diese Gesellschaft braucht Täter wie Wolfgang Priklopil, um dem Bösen, das in ihr wohnt, ein Gesicht zu geben und es von sich selbst abzuspalten. Sie benötigt die Bilder von Kellerverliesen, um nicht auf die vielen Wohnungen und Vorgärten sehen zu müssen, in denen die Gewalt ihr spießiges, bürgerliches Antlitz zeigt. Sie benutzt die Opfer spektakulärer Fälle wie mich, um sich der Verantwortung für die vielen namenlosen Opfer der alltäglichen Verbrechen zu entledigen, denen man nicht hilft - selbst wenn sie um Hilfe bitten."
Lesen und sich selbst ein Urteil bilden!




Dienstag, 3. April 2012

Hans Koppel: Entführt

349 S., Heyne, ISBN 978-3-8371-1320-4, 14,99 €

Entführt und anderthalb Jahre gefangen gehalten. Gefügsam gemacht und ohne Fluchtgedanken. Mit dem Blick auf einen Bildschirm, der das Haus der eigenen Familie zeigt.

Das ist die Geschichte von Ylva, die Hans Koppel hier erzählt. Ylva kann täglich, stündlich beobachten, was ihr Mann und ihre kleine Tochter machen. Wie sie nach der Entführung erst verzweifelt sind und Hoffnung haben, daß sie zurückkommt. Wie sie nach und nach wieder in ihr Leben - ohne sie selbst - zurück finden. Und wie sie letztendlich wieder glücklich werden und Ylva vergessen scheint.

Als die Entführer ihrer überdrüssig werden, beschließt Ylva, doch endlich einen Versuch zu wagen, der Hölle zu entkommen. Sie hat nichts mehr zu verlieren.

Doch wer sind die Entführer und was steckt hinter der Entführung? Warum sind ehemalige Mitschüler von ihr ums Leben gekommen?

Die Polizei ist der festen Überzeugung, daß Ylva ihrem eigenen Mann zum Opfer gefallen ist. Sie können es ihm allerdings nicht nachweisen und so wird nicht allzuviel unternommen, um das Verschwinden tatsächlich aufzuklären.

Nur ein weiterer Mitschüler, der inzwischen Journalist ist, scheint die ganze Geschichte nicht geheuer und er trifft auf Unstimmigkeiten.

Spannend inszinierter Krimi, der dennoch nicht aus der Masse heraussticht. Das liegt mit Sicherheit an der einfachen Sprache und an der doch recht simpel gestrickten Hintergrundgeschichte, die eigentlich schon früh recht klar ist. Ein wenig mehr Verwicklungen, andere Spuren und eine ausgefeiltere Sprache hätte aus diesem Roman mehr machen können.