Samstag, 3. November 2012

Jan Brandt: Gegen die Welt

927 S., Büchergilde Gutenberg, 19,95 €, ISBN 978-3-7632-6511-4

Alles, was Daniel Kuper auch in seinem Leben tut, ist "gegen die Welt". Ob er angeblich von Außerirdischen entführt und wieder im Kornfeld freigelassen wird, ob er angeblich Hakenkreuze an die Wände seines westdeutschen Heimatdorfes Jericho pinselt, ob er angeblich verantwortlich ist für den Freitod eines Klassenkameraden auf den Schienen.

So jedenfalls sehen es seine werten Dorfmitbewohner. Und selbst seine Eltern glauben ihm nicht, dass er immer wieder in Situationen gerät, an denen er weder Schuld hat, noch das getan hat, was ihm unterstellt wird. Und dies nur, weil er irgendwie dazu gehören will.

Das Spießbürgertum und die Dekadenz der Jerichower Bürger lassen Daniel keinen Raum für seine überbordende Phantasie und Grundintelligenz. Er wird zur Figur, die für alles verantwortlich gemacht wird, was schief läuft im Dorf.

Aber eigentlich ist das Buch ein Sammelsurium skurriler Geschichten. Hard - Daniels Vater - zum Beispiel, liebt seine Frau, hat aber einige Affairen gleichzeitig und wie er diese händelt, ist allemal ein Schmunzeln wert. Oder Daniels Freund Onno, der Musikenthusiast, der sich ausgerechnet die Bühne wählt für seinen spektakulären Abtritt. Oder Stefan, der sich verfolgt fühlt von Außerirdischen, die seiner Ansicht nach die Welt erobern, indem sie sich den Menschen als Wirt bemächtigen.

Im Laufe des Romans fragt man sich als Leser, wohin uns die Geschichte führen will, was ist die Essenz. Aber sie lebt wie jeder große Roman von der Schilderung alltäglicher Ereignisse, die ein Porträt einer Zeit sind. In diesem Fall die Zeit kurz vor und nach der Wiedervereinigung. Welche Auswirkungen die Einheit für die westdeutschen Provinzler hat, wie sie zu den zugezogenen Ostdeutschen im kurzerhand umgetauften "Kumponistenviertel" stehen. Wie schwer der Kampf der kleinen Läden gegen die sich geschwürartig ausbreitenden Filialisten wurde. Wie sich die Wahl der Schulform auf das gesellschaftliche Umfeld der Jugendlichen auswirkt.

Am Ende bleibt es dem Leser überlassen, ob er an eine Verkettung vieler seltsamer Umstände glaubt oder sie als Folge der Beschränktheit der Dorfbewohner hält. Oder ist es gar der Einfluss der Außerirdischen, der für die gesammelten Absurditäten von Jericho (welch bezeichnender Name!) verantwortlich ist? Ich selbst war geneigt, dem letzten Glauben zu schenken. Mich amüsiert dieser Gedanke.

Brandt bedient sich außerdem mit gewisser Freude drucktechnischer Stilmittel, die dem Buch einen gewissen Kick geben. So wird beispielsweise für ca. 150 Seiten das Buch zweigeteilt und zwei Erzählperspektiven parallel geführt. Solche Spielereien gibt es noch weitere: Briefe haben eine Schreibmaschinenschrift mit handschriflichen Einschüben. Die Vernebelung des Geistes aufgrund von Alkohol oder Ohnmacht verblasst auch im Schriftbild.

"Gegen die Welt" ist ein wirklich lesenswerter Roman. Zur absoluten Begeisterung fehlte mir noch die große Klammer, die alles (wirklich schlüssig) zusammenhält. Dennoch war der Roman in meinen Augen zu Recht auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2011. Eine Empfehlung!

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